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Tödliche Bräuche

 

In der Zeitschrift „Publik Forum“ erschien unlängst ein Artikel, der sich mit Kindermord und Kindesmissbrauch bei den Indiovölkern beschäftigt. Darin wird auf plakative Weise auch der Indianermissionsrat (CIMI) der Bischofskonferenz kritisiert, weil er angeblich dazu schweige. Bischof Kräutler als Präsident des CIMI nimmt leidenschaftlich gegen diese Verunglimpfung Stellung.

Da scheiden sich die Geister: „Sollen wir in einem solchen Extremfall eine gesamte Volksgruppe vor Gericht bringen, Mutter und Kind einsperren lassen und vorläufige kulturelle Sonderwege mit dem Strafgesetzbuch verfolgen? Oder sollen wir mit all unserer Kraft und pastoraler Geduld versuchen, die Leute zu überzeugen, dass der kulturell vorgesehene Tod eines Kindes anachronistisch ist und ihre eigene Lebensstrategie unterläuft?“

 

Die gesamte Stellungnahme von Bischof Kräutler können Sie hier downloaden:

 

Hier scheiden sich die Geister...

 

Publik-Forum hat kürzlich (42/5-2009) in einem sensationell getitelten Beitrag von Klaus Hart „Tödliche Bräuche. Kindermord und Kindesmissbrauch sind bei den Indiovölkern kulturell verankert - und der Indianermissionsrat schweigt“, die verwirrende Nachricht verbreitet, die dem Brasilianischen Missionsrat für indigene Völker (CIMI) sträfliche Nachsicht bei Kindermord und Kindesmissbrauch unter Indios anlastet. Zu Recht hat der Artikel im deutschsprachigen Raum Entrüstung und Verwirrung hervorgerufen, weil dort CIMI als eine pastorale Einrichtung der Brasilianischen Bischofskonferenz bekannt ist die sich seit nahezu 40 Jahren unerbittlich für die Rechte, insbesondere die Landrechte der indigenen Völker einsetzt. Der Tendenz nach ist der Text von Publik-Forum die Blaupause eines am 20. Februar 2008 im Wochenmagazin ISTO É erschienenen Artikels, der dem staatlichen Indianerschutzdienst (FUNAI) grobe Fahrlässigkeit in derselben Sache anlastet.

 

Was geht hier vor? Es ist tatsächlich unfassbar, dass Kinder ermordet werden. Unfassbar ist natürlich auch, dass, laut Gesundheitsminister José Gomes Temporão, in Brasilien auf drei lebend geborene Kinder eine illegale Abtreibung fällt, also jährlich weit über eine Million, wobei es sich doch in diesem Fall um Kinder handelt, die noch im Mutterleib sind und absolut keine Chance haben, sich zu verteidigen. Die Brasilianische Bischofskonferenz hat sich zuletzt dazu in der Fastenaktion 2008 („Geschwisterlichkeit und Verteidigung des Lebens“) ausführlich geäußert.

 

Allerdings geht es im genannten Artikel von Klaus Hart um einen anderen Sachverhalt, nämlich um den kulturell vererbten Brauch des heute sehr seltenen Infantizid unter einigen Stämmen der Indigenas, die mit der Nationalgesellschaft noch kaum Kontakt haben. Als Präsident von CIMI möchte ich all denen, die an den wahren Hintergründen des Kindermordes von Publik-Forum interessiert sind, eine sehr persönliche und der Umstände halber kurze Antwort geben.

 

Unter einigen wenigen Stämmen der Indios Brasiliens gibt es noch die kulturelle Institution der Infantizids. Wie gehen wir mit diesem pastoralen Grenzfall um?  Ich habe öfters die Geschichte der Priscila erzählt. Sie ist vom Stamm der Araweté, am Xingu, wo ich seit 1981 Bischof bin. Priscila hat einen Zwillingsbruder. Als sie auf die Welt kam, hat sie die Mutter "der Erde zurückgegeben", weil es ihr nicht möglich schien, zwei Kinder auf einmal zu ernähren und großzuziehen und dabei noch auf dem Feld zu arbeiten. Die Mutter hängt ihr Baby in einem Umhang an ihre Brust oder trägt es auf der Schulter. Zwei Säuglinge kann sie nicht mitnehmen. Also war es der Brauch, im Falle einer Zwillingsgeburt, eines der Kinder der Erde anzuvertrauen. Ich sage, es WAR der Brauch, denn heute ist es nicht mehr so. Priscila wurde noch rechtzeitig ausgegraben. Eine andere Frau nahm sich der Kleinen an und sie wuchs heran und gedieh. Priscila war sogar eine Zeit lang Ministrantin in Altamira und ist heute verheiratet. Die Indios haben mitbekommen, dass ein Kind eben auch adoptiert werden kann. Das war ein Prozess des Umdenkens und Priscila war wohl das letzte Mädchen der Araweté, das dieses Schicksal erlitt und gerade noch im rechten Augenblick gerettet wurde. Einen ähnlichen Fall könnte ich von dem Stamm der Tapirapé berichten, wo die Kleinen Schwestern des Charles de Foucauld lebensrettend eingegriffen haben, einen anderen von den Mynky. Den dramatischen Bericht unseres Missionars Günter Krämer um den allerdings noch erfolglosen Einsatz eines ausgesetzten Kindes unter den Suruaha muss man gelesen haben, um die Leichtfertigkeit de Publik-Forum-Berichterstattung richtig einschätzen zu können.

 

Welche pastoralen Alternativen bieten sich an? Die Frage ist, wie wir mit Menschen umgehen, die eine andere Auffassung haben und in diesem Bereich sich nicht von christlichen Werten leiten lassen, sondern unter bestimmten Umständen sogar das Leben eines Kindes auslöschen. Wenn solche Fälle auch ausgesprochen selten sind, ist jeder Kindesmord einer zu viel und darf nicht einfach mit Achselzucken hingenommen werden. Wie aber sollen wir in dieser Situation das Evangelium als Frohe Botschaft verkünden? Sollen wir in einem solchen Extremfall eine gesamte Volksgruppe vor Gericht bringen, Mutter und Kind einsperren lassen und vorläufige kulturelle Sonderwege mit dem Strafgesetzbuch verfolgen? Oder sollen wir mit all unserer Kraft und pastoraler Geduld versuchen, die Leute zu überzeugen, dass der kulturell vorgesehene Tod eines Kindes anachronistisch ist und ihre eigene Lebensstrategie unterläuft? Wir sind immer für das physische und kulturelle Überleben der Indios eingetreten und tun das auf dem Fundament des Evangeliums und nicht mit dem Evangelium des Fundamentalismus. Hier freilich scheiden sich die Geister.

 

Augenblicklich geistert durch das brasilianischen Parlament ein von fundamentalistischen Sekten inspirierter Gesetzesvorschlag des Bundesabgeordneten Henrique Afonso (PT/Acre) (Gesetzesprojekt Nr. 1057/2007), der im Namen der Menschenrechte und der Verfassung derlei kulturelle Praktiken unter Strafe stellen möchte und alle, die um eine Reihe von einzeln aufgelisteten Bräuchen wissen, verpflichtet, diese schon vorbeugend den zuständigen Staatsbehörden zu melden. Wir halten von solchen evangelikalen Sofortmassnahmen nichts. In der Vergangenheit haben sie vielfach zu gewaltsamen Eingriffen in die Kultur der Stammesvölker geführt. Hier wird im Namen der Menschenrechte und unter dem Vorwand der Unterdrückung des Infantizids der flächendeckende Ethnozid, der Kulturmord also, installiert. Auf der eine Seite sollen die alten Vorurteile gegen die indigenen Völker, wie zum Beispiel deren Barbarei, Teufelsriten und Faulheit, und auf der andere Seite die Verteidigung der Menschenrechte und des wahren Evangeliums das Gesetzesvorhaben untermauern und dem Einfall evangelikaler Sekten, die sich für sich für die Zivilisierung der indigenen Völker einsetzen, Tür und Tor öffnen. Die Missionsarbeit der Katholischen Kirche und des CIMI wird dabei wie im Artikel von Publik-Forum, sträfliche Nachsicht und evangelische Laxheit im Umgang mit überholten Bräuchen der Indigenas vorgeworfen. Hinter dem Gerede von den Menschenrechten verbirgt sich in diesem Fall aber gerade die Leugnung der Menschenrechte der Indigenas. Niemals ist von evangelikalen Gruppen der Ruf zur Vermessung des Landes der indigenen Völker laut geworden. Im Gegenteil, sie haben mit ihren Eingriffen in die Kultur der Indios dazu beigetragen, dass die indigenen Völker ihre Identität, ihr Land und ihre Kultur verloren haben. In der Tat, hier scheiden sich die Geister.

 

Altamira, Brasilien, 10. April 2009

 

Erwin Kräutler

Bischof vom Xingu, Präsident des CIMI

 

 

Die Stellungnahme von Bischof Kräutler ist in der neuen Ausgabe von "publik forum" voll inhaltlich abgedruckt worden: publik forum 9 (2009) 38

 

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